Wie ich als Extrovertierter die Introversion für mich entdecke
Extrovertierte werden oft als das komplette Gegenteil introvertierter Menschen dargestellt. Dem Klischee nach sind wir laut, leben vom Kontakt mit anderen Menschen und genießen das Rampenlicht. Doch auch Extrovertierte können ihre introvertierte Seite entdecken.
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Mein Alternativtitel für diesen Artikel lautet “Warum ich als Rampensau die Ruhe schätzen gelernt habe” doch der ist erstens sperrig und klingt zweitens nicht so schön wie die aktuelle Überschrift.
Wenn du dich jetzt fragst, seit wann Steffi extrovertiert ist, hast du vielleicht den #Gastartikel am Ende der Überschrift überlesen. ;)
Gestatten: Christian, Steffis Ehemann und online eher als sozialpr bekannt. Wenn du ein wenig nach mir suchst, wirst du schnell feststellen, dass ich das Rampensau Gen ganz klar in mir trage.
Ja, ich mag es, Wissen weiter zu geben, Menschen zu helfen, zu lehren und dabei ein wenig im Rampenlicht zu stehen. Oder genauer gesagt: Das mochte ich früher sehr.
Die Leidenschaft für Lehre und Wissensvermittlung und die Unterstützung von Menschen ist in den letzten Jahren noch gewachsen, doch meine Beziehung zum Rampenlicht hat sich verändert.
Wie “Erfolg” mir zeigte, was mir wichtig ist
Lange Zeit war Ruhm, auch wenn ich mir das nicht eingestehen wollte, meine treibende Kraft. Als ich 2016 einen TEDx Talk zu einem meiner Herzensthemen halten durfte, war ich nervös, begeistert, euphorisch - und danach lange im Reflexionsmodus.
Denn dieser tolle Moment zeigte mir eines ganz deutlich: Der Erfolg und Ruhm, den ich zu dieser Zeit anstrebte, war eben NICHT das, was mir wirklich wichtig war.
Diese äußere Bestätigung tat meinem Ego gut, doch ich spürte, dass andere Aspekte wichtiger wurden. Damals war ich recht frisch mit meiner heutigen Frau, Steffi, zusammen gekommen. Und obwohl wir frisch verliebt auf Wolke sieben schwebten, spürte ich, dass sie mir mehr gab.
In den folgenden Monaten und Jahren habe ich meine introvertierte Seite stärker entdeckt. Wobei das nicht ganz stimmt: Sie war immer da - ist sie meiner Erfahrung und Gesprächen mit anderen Extrovertierten nach bei fast allen - doch ich hatte ihr nie wirklich erlaubt zu wachsen.
Es hat lange gedauert, bis mir die Gründe klar geworden sind. Heute kann ich sie auf drei Aspekte - ich mag die Zahl drei -reduzieren:
Mein Ego hing zu stark von meiner Fremdwirkung und meinem Bild nach außen ab. Meine introvertierte Seite wachsen zu lassen hätte geheißen, nicht mehr auf allen Events zu sein, weniger sichtbar zu werden und Einbußen bei der Außendarstellung hinzunehmen.
Trotz meiner Beziehung zu Steffi hatte ich noch zu viele Kontakte, die ähnlich nach außen gerichtet unterwegs waren. Sie verstärkten - nicht absichtlich oder in böser Absicht, sondern einfach weil sie auch so dachten - meine Überzeugung, dass ich mich entsprechend präsentieren müsse. Meine introvertierte Seite hätte das sabotiert.
Mein Ego war sich sicher, dass ich immer Stärke zeigen musste. Zu nachdenkliche Phasen oder gar die bewusste Beschäftigung mit Selbstzweifeln waren da hinderlich. Genau das hätte das Wachstum meiner introvertierten Seite, zumindest temporär, aber mit sich gebracht.
Rückblickend war es ein wunderbarer Erfolg, der mir klar gemacht hat, das ich den falschen Dingen und Menschen nachlaufe. Glücklicherweise war Steffi schon da und wies mir den richtigen Weg.
Was haben Extrovertierte von ihrer introvertierten Seite?
Wenn ich mit anderen Menschen, die sich selbst eher als extrovertiert sehen, über dieses Thema spreche, kommt fast immer eine Frage:
Natürlich gibt es hier keine allgemeingültige Antwort. Deshalb berichte ich einfach nur, was ich davon habe. Vielleicht klingt manches davon ja auch für dich, oder eine*n extrovertierten Bekannte*n ja attraktiv.
Meine introvertierte Seite hilft mir zu erkennen und zu reflektieren, was für mich wichtig ist. Sie hilft mir dabei zu filtern, ob ich externer Anerkennung nachlaufe und oder meinen eigenen Weg gehe.
Sie hilft mir dabei zu entscheiden, ob ich eine spannende Gelegenheit - beispielsweise einen Vortrag oder eine*n neue*n Kund*in - annehme oder ob ich sie zugunsten meiner langfristig wichtigen Ziele und Werte ablehne.
Sie hilft mir dabei, Ruhe zu finden, Ordnung in mein gedankliches Chaos zu bringen und Kraft aus Zeit mit mir, der Natur, Steffi und Freund*innen zu ziehen.
Meine introvertierte Seite fungiert für mich als Gegenwicht zu meiner extrovertierten Veranlagung, hilft mir dabei, gerade in erfolgreichen Phasen Balance zu halten und nicht (zu sehr) abzuheben.
Wie kannst du dich deiner introvertierten Seite nähern?
Zugegeben, wenn du hier bei Steffi mitliest stehen die Chancen gut, dass du eher introvertiert bist (vermute ich zumindest). Doch vielleicht kennst auch du extrovertierte Menschen, denen du mehr Zugang zu ihrer introvertierten Seite wünschen würdest.
Wenn das der Fall ist, hilft dir vielleicht die Quintessenz meiner Erfahrung weiter, um diese Menschen dabei zu unterstützen, Zugang zu ihrer introvertierten Seite zu finden.
1. Schaffe Reflexionsanlässe
Erfahrungsgemäß ist es wenig hilfreich, wenn du anderen Menschen, oder dich selbst, dazu zwingen willst, sich mit ihrer - oder du dich mit deiner - introvertierten Seite zu beschäftigen. Mir hat viel mehr geholfen, Reflexionsanlässe zu schaffen.
Im beruflichen Bereich wollen viele extrovertierte Menschen - solche Verallgemeinerung sind natürlich immer unscharf und keine 100-prozentige Regel - weiterkommen, sie sind oft ambitioniert, streben Wachstum und Entwicklung an. Ist das der Fall, kann es helfen, sie mit einer ganz anderen Philosophie und Sichtweise bekannt zu machen. Bei Selbstständigen empfehle ich beispielsweise das Buch “Company of One” von Paul Jarvis . Er stellt seinen Ansatz auch im Podcast von The Minimalists vor.
Das kann natürlich auch mit anderen Themen funktionieren. Wenn im privaten Bereich Haus oder Auto - sehr plakativ gesprochen - zum Fixpunkt werden, kann die Bekanntschaft mit der Tiny House Idee vielleicht zur Reflexion anregen.
2. Finde ein Ventil für Gedanken
Seiner introvertierten Seite mehr Raum zu geben bedeutet meist auch, mehr Zeit mit sich selbst und in Stille zu verbringen. Sicher, gute Musik, Bücher und andere Dinge können Freude bereiten und ablenken, doch früher oder später muss man sich sich selbst zuwenden.
Das ist für extrovertierte Menschen nicht unbedingt einfach und so manche*r scheut sich aus genau diesem Grund, die introvertierten Aspekte der Persönlichkeit zuzulassen. Bei mir war das auch so.
Mir hat geholfen, dass ich im Schreiben - bevorzugt handschriftlich mit Stift und Papier (ganz altmodisch, ich weiß) - ein Ventil für meine Gedanken hatte. Bis heute ist Schreiben für mich Therapie, Ventil und Psychohygiene gleichermaßen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Für andere ist es Sport, wieder andere finden das Ventil in Gesprächen, Musik oder handwerklicher Arbeit. Was es ist spielt, solange es anderen Menschen nicht schadet, im Grunde keine Rolle.
Wichtig ist, dass es ein solches Ventil gibt und du - oder die extrovertierten Menschen, die du anregen willst - es kennen und nutzen.
3. Kläre das Fundament deiner Identität
“Fundament deiner Identität” klingt groß, das ist mir klar. Doch wenn ich geschrieben hätte “Wisse, wer du bist” hätte das zu sehr nach Sokrates oder Aristoteles geklungen.
Mit “Fundament deiner Identität” - natürlich kann auch die Identität der extrovertierten Menschen gemeint sein, die du begleiten willst - meine ich schlicht: Wisse, was dich ausmacht und worauf deine Selbstwahrnehmung und - viel wichtiger - dein Selbstwert und Selbstbild beruhen.
(Sehr) Extrovertierte Menschen sind oft stark extern geprägt. Wie sie von anderen wahrgenommen werden kann - nicht muss - einen großen Teil ihrer Identität ausmachen. Wenn du - oder sie - die introvertierte Seite zulassen, verändert sich das Fundament oft.
Die eigene Wahrnehmung, eigene Werte, die Meinung weniger ausgewählter Menschen und die Wirkung des eigenen Handelns - der individuelle Impact - werden wichtiger.
Entscheidend ist jedoch: Der individuelle Impact, also was man selbst bewirken und verändern kann, ist auch dann wichtig und wertvoll, wenn er nicht von außen wahrgenommen wird.
Extrem extrovertierte Menschen brauchen - so ging es mir jedenfalls - oft die Bestätigung von außen, wenn sie Dinge verändern. Die Veränderung ist schön, doch die Anerkennung ist noch schöner und wichtiger.
Bei mir hat sich das durch meine introvertierte Seite und durch Steffi verändert, heute ist Anerkennung immer noch schön, doch wichtig ist kaum noch, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, ob sie von außen wahrgenommen wird. Dieses Gefühl, mit dem Wissen um die eigene Wirkung zufrieden zu sein, auch wenn niemand es mitbekommt, ist wunderbar beruhigend und erdend.
Meine Bitte: Gib deiner introvertierten Seite Raum
Zum Abschluss habe ich eine Bitte an dich, wenn du zu den extrovertierten Menschen zählst: Gib deiner introvertierten Seite Raum. Lass sie zu, trau dich. Es lohnt sich.
Und wenn du selbst eher introvertiert bist: Vielleicht kannst du diesen Artikel dem einen oder anderen extrovertierten Menschen zukommen lassen, wenn du meinst, dass er ein Reflexionsimpuls sein könnte. Ich würde mich freuen.
Danke für deine Zeit und deine Aufmerksamkeit. Und danke Steffi, dass ich hier bei dir schreiben durfte - und für alles andere sowieso.
Bildquelle:
Titelbild ©️ adempercem via depositphotos.com