Wenn Du helfen willst, lerne schweigen und höre zu

Als Extrovertierter habe ich gelernt, dass Schweigen keine Schwäche ist - sondern eine Stärke.

Als Extrovertierter habe ich gelernt, dass Schweigen keine Schwäche ist - sondern eine Stärke.

Schweigen ist für introvertierte Menschen, so wirkt es zumindest für mich, einfach. Für viele Introvertierte in meinem Netzwerk ist es ihr Normalzustand. Dadurch wirken sie leise und zurückhaltend. Manche sehen das als Schwäche. Als eher extrovertierte Mensch habe ich in den letzten Jahren jedoch gelernt, dass Schweigen keineswegs eine Schwäche ist - sondern eine Stärke. Das gilt vor allem dann, wenn Du Menschen helfen und für sie da sein willst.

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Schweigen ist für Extrovertierte schwer

Die meisten extrovertierten Menschen in meinem Netzwerk reden gerne und viel, mich eingeschlossen. Wer mich in Gesprächen oder Workshops erlebt hat weiß: Schweigen und zuhören fällt mir nicht immer leicht. Darauf bin ich nicht stolz, doch ich weiß, dass echtes Zuhören eine Herausforderung für mich sein kann.

Mit echtem Zuhören meine ich, Zuhören um zu verstehen und nicht um zu antworten. Schweigen und volle Konzentration auf mein Gegenüber sind die Voraussetzungen für dieses Zuhören.

Zahlreichen extrovertierten Menschen, die ich kenne, geht es ähnlich. Schweigen ist für sie und mich nicht leicht. Wir reden gerne, wir wollen Antworten bieten, wir wollen helfen. Wir wollen etwas tun. Das ist gut gemeint, jedoch nicht immer gut gemacht.

Schweigen und zuhören kann echte Hilfe sein

Der Wikipedia Artikel zum Begriff Hilfe beginnt mit den folgenden Worten:

"Hilfe im Sinne tätiger Hilfsbereitschaft ..."

Auch hier wird Hilfe also mit Tun und Aktivität verbunden. Das ist auch mein erster Impuls. Inzwischen weiß ich: Er kann falsch sein.

Um zu erklären was ich mein, lade ich Dich zu einem kurzen Gedankenexperiment ein. Lass Dich bitte mit mir auf folgende Situation ein:

Eine gute Freundin oder ein guter Freund ruft Dich aufgelöst an. Sie oder er ist mit den Nerven am Ende. Als gute Freundin oder guter Freund nimmst Du Dir natürlich Zeit und fragst: "Was ist lost? Wie kann ich Dir helfen?" Dann bricht es aus ihr oder ihm heraus: Eine lange Liste an Problemen. Je länger Du zuhörst, desto klarer wird Dir: Es sind alles Kleinigkeiten. Nichts davon sollte Deine Freundin oder Deinen Freund an den Rand der Verzweiflung bringen, sie oder er kann das alles locker erledigen. Schlimmer noch: Es ist nichts dabei, wobei Du wirklich helfen kannst. Alle Punkte und die fast greifbare Verzweiflung Deiner Freundin oder Deines Freundes sind Dinge, die sie oder er selbst klären muss.

Wenn es Dir ähnlich geht wir mir, steigt in Dir vielleicht ein Gefühl der Frustration und der Hilflosigkeit auf. Eine erste Reaktion könnte sein: "Reiß Dich zusammen, das ist alles gar nicht so schlimm."

Doch ich vermute wir sind uns einig, dass niemand von uns so mit einer Freundin oder einem Freund reden würde. Helfen würde es ganz sicher nicht.

Was kannst Du also tun?

Du ahnst es: Schweigen und zuhören. Das bedeutet nicht, das Telefon neben Dich zu legen, Kaffee zu kochen und ab und an zustimmende Töne von Dir zu geben.

Schweigen und zuhören bedeutet, dass Du Deiner Freundin oder Deinem Freund Deine ganze Aufmerksamkeit schenkst. In diesem Augenblick bist Du ganz und gar für sie oder ihn da.

Jetzt kommt der, für extrovertierte Menschen inklusive mir, schwere Teil: Schweigen und zuhören bedeutet auch, keine Ratschläge zu geben, keine Lösungen anzubieten und keine Antworten auf Fragen zu geben, die nur indirekt gestellt werden.

Antworten, Tipps, Ratschläge - all das kommt erst, wenn Deine Freundin oder Dein Freund Dich explizit danach fragt. Wenn Du das Gefühl hast, dass sie oder er sich nicht traut, die Frage zu stellen, kannst Du nachfragen: "Möchtest Du einen Tipp von mir?"

Fragen stellen ist generell okay - wenn Du sie stellst, um zu verstehen. Suggestivfragen oder Fragen, die das Gespräch lenken sollen, gehören jedoch in die Kategorie "Gut gemeint statt gut gemacht".

Einfach da sein ist manchmal die beste - und schwerste - Hilfe

Es gibt viele Situationen, in denen Menschen anderen Menschen rein durch ihre Anwesenheit, ein offenes Ohr und Aufmerksamkeit helfen. Einfach da sein ist unglaublich wertvoll - und alles andere als leicht.

Einfach da sein, schweigen und zuhören bedeutet ...

  • ... die eigenen Ideen und Ansichten dazu, was richtig ist, zurückzustellen.

  • ... zu akzeptieren, dass andere Menschen jetzt, in diesem Augenblick nur Aufmerksamkeit und Zuwendung und keine Ratschläge wollen.

  • ... Menschen so anzunehmen, wie sie sind und ihnen Deine ganze Aufmerksamkeit zu schenken.

  • ... sich von Erwartungen und Annahmen freizumachen und wirklich offen zuzuhören.

  • ... manchmal auch, eine Last zu teilen und im Schweigen mitzutragen.

All das ist nicht leicht. Für extrovertiert veranlagte Menschen schon gar nicht. Doch es ist unglaublich wichtig, diese Fähigkeit zu lernen und zu trainieren.

Das oben skizzierte Gedankenexperiment hat mehr mit der Realität zu tun, als mir lieb ist. In der aktuellen Situation - eine mehrjährige Pandemie, Krieg in Europa und menschliches Leid weltweit - können auch scheinbar einfach Dinge schwer und unüberwindbar scheinen.

Die Tatsache, dass wir durch Social Media und die Wunder der digitalen Kommunikation alle Nachrichten in Sekundenbruchteilen erhalten können, macht das definitiv nicht leichter. Daher möchte ich diesen Artikel mit fünf Gewohnheiten abschließen, die mir dabei helfen, mit der Welt im Allgemeinen und der Herausforderung des Schweigens und Zuhörens klarzukommen.

5 Gewohnheiten für innere Ruhe und Ordnung

Ein Hinweis vorab: An allen fünf Punkten arbeite ich täglich, bei allen bin ich längst nicht da, wo ich gerne wäre. Doch jeden Tag versuche ich es aufs Neue. Vielleicht ist einer der fünf Punkte auf für Dich hilfreich.

  1. Freunde Dich mit Stille an - Je nach Lebenssituation denkst Du jetzt vielleicht: "Nette Idee, aber Stille habe ich nicht in meinem Leben." Von Eltern junger Kinder höre ich diesen Satz erstaunlich oft ;). Etwas ernsthafter: Als Menschen brauchen wir Momente der Stille. Sie müssen nicht lang sein, dafür intensiv. Es ist nicht wichtig, ob es 10 Minuten am Morgen sind, bevor alle wach werden, oder 10 Minuten zwischen zwei Zoom Calls oder Terminen. Wichtig ist nur, dass Du Stille findest und sie bewusst zulässt und annimmst.

  2. Sorge für mediale Stille - Direkt nach äußerlicher Stille folgt für mich aktuell auch mediale Stille. Social Media und digitale Kommunikationskanäle sind für mich immer noch wahre Wunder und nicht zuletzt beruflich für mich wichtig. Doch wir sind als Menschen meiner Meinung nach nicht dafür gemacht, uns ständig mit so viel medialem Input zu versorgen und so viele Reize und Informationen zu verarbeiten, wie wir heute konsumieren können. Bitte achte auf Dich und schalte bewusst in den Flugmodus.

  3. Bringe Deine Gedanken aus Deinem Kopf - Wenn ich zu viele Informationen aufnehmen und sich alles ballt, beginnt in meinem Kopf ein sich selbst verstärkender Wirbelsturm der Gedanken. Mein Hirn denk non-stopp und hört von selbst auch nicht auf. An Schlaf, Stille oder auch nur Ruhe ist dann nicht zu denken. Mein Ventil ist das Schreiben. Handschriftlich und im Stile der Morgenseiten, wenn auch nicht unbedingt morgens. Durch den Stift fließen meine Gedanken aus meinem Kopf auf die Seite. Suche und finde Dein Ventil und nutze es regelmäßig. Ich muss vor allem dann schreiben, wenn ich es nicht für notwendig halte. Sobald ich Druck verspüre es zu tun, ist es fast schon zu spät.

  4. Bewege Dich draußen. - Wenn Sport Dein Ventil ist, kannst Du diesen Punkt fast überspringen. Allerdings ist mein Tipp, Dich draußen zu bewegen. Bewegung ist insgesamt sehr wichtig - es muss nicht Sport sein, Spaziergänge reichen völlig - frische Luft und Sonne machen sie noch wertvoller. Vielleicht machst Du einen 10 oder 15-minütigen Spaziergang auch zu einem Multifunktionswerkzeuge für Deine psychische Gesundheit und lässt sie zur Zeit der Stille und zu Deinem Ventil werden?

  5. Reise in andere Welten - Nein, ich meine hier keine Urlaubsreisen. Wenn Du die machen kannst: Genieß sie. :) Hier meine ich Reisen, wie Du sie durch Bücher, Filme, Serien, Hörbücher, Podcasts oder Computerspiele machen kannst. Gönne Dir und Deiner Fantasie eine Reise in eine andere, vielleicht einfachere und fantastischere Welt. Trete diese Reisen ganz bewusst an und nutze sie als Auszeit.

    Vielleicht ist bei diesen fünf Tipps einer für Dich dabei. Vielleicht inspirieren sie Dich dazu, Deine eigenen Gewohnheiten zu entwickeln. Egal was Du tust: Ich wünsche Dir Menschen in Deinem Leben, die schweigen und Dir zuhören, wenn Du das brauchst.

    P.S.: Schweigen kann in anderen Kontexten auch eine echte Gefahr sein. Das ist zwar nicht Thema dieses Artikels, in der aktuellen Lage jedoch so akut und wichtig wie nie. Clint Smith bringt das im folgenden TED Talk hervorragend auf den Punkt.

Bildquelle:

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